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RELEVANZ

Die Frage nach der Relevanz in der Architektur ist eine gleichermassen jugendliche wie existenzielle Frage. Sie zu stellen öffnet Fässer ohne Boden und führt zu unerwarteten Antworten. So bleibt sie immer aktuell. Heute drängt sie sich uns förmlich auf, angesichts der globalen Aufbruchstimmung und der gleichzeitig so paradoxen Kontinuität der hiesigen Architektur. Zusätzlich zu dieser Diskrepanz sehen sich Architekturschaffende zunehmend genötigt, ihre Rolle im Bauprozess und nicht zuletzt in der Gesellschaft zu verteidigen. Passt es noch zusammen, das Selbstbild der Architekturschaffenden und das Fremdbild von Externen? Die Korrelation ist in Bewegung, so viel steht fest. Deswegen kommen in <trans20> beide Seiten gleichberechtigt zur Sprache, um dem Für und Wider Raum zu geben und die neue Schnittmenge aufzuspüren. «Wo stehen wir? ...und überhaupt!« fragte Werner Oechslin in <trans18>. Was ist unsere Relevanz, wie bleiben wir relevant, wie werden wir relevanter? Diese Frage, gleichsam die grundsätzliche Frage nach der Zukunft unserer Profession lässt uns nicht los; sie pendelt zwischen Skepsis und Optimismus.

«The architect is no longer a miracle worker» resümiert Eli Hatleskog nicht ohne Melancholie. Ihr Projektbeschrieb kennt keine Stars, sondern findet im Kleinen Wirkungsgrade für Architekten. Im angelsächsischen Raum existiert bereits ein neues Architektenbild, welches den unantastbaren Generalisten abgelöst hat. «One remains sceptical about the possibility that architects will ever fill a role other than that of peripheral consultants.» (Nancy Ottaviano, Sandra Parvu) Trotz grosser Visionen werden Architekten von potenten Akteuren aus dem Entscheidungsprozess verdrängt. Tom Rüfli verweist auf die Tendenz, dass «der Übergang des Architekten zum Koordinator unumgänglich [ist], ob gewollt oder ungewollt.» Investoren, Generalunternehmen und strikte Bauvorschriften als Mahlsteine, zwischen denen die Architekten zerrieben werden?

Zur Stärkung ihrer Position schliessen sich Architekten zunehmend in Netzwerken zusammen. «Oft [geht] es nicht mehr nur um die Qualität der Architekturen, sondern die legitimierende Macht des Netzwerks dahinter.» (Laurent Stalder) Und trotzdem: An einem Podium der Wirtschaftselite an der Hochschule St. Gallen vergangenen Jahres wurde der Architektur attestiert, sie werde zum Exportgut Nummer eins der Schweiz. Architektur als Produkt auch bei Marcel Scherrer: «Gestaltung sollte Kür sein, wenn das Pflichtprogramm

sorgfältig und professionell durchgeführt ist: Die richtige Lage mit dem adäquaten Produkt in einem frühen Zeitpunkt zu besetzten.»

Den vermeintlichen Bedeutungsverlust auf externe Einflüsse zu schieben wäre falsch. «Seit den 1960er Jahren praktizieren wir Architektur gewissermassen im Alleingang.» Stefan Kurath verweist auf die Entfremdung vom Alltagsleben und die daraus resultierende Sinnentleerung. Ist die Architektur zur Hochkultur, zum Objekt der Avantgarde geworden, mit der Mitmenschen wie der Rapper Greis («Ich bin ein Kind der Populärkultur.») nichts mehr anfangen können?

«Ich baue meine Texte nicht für andere Schreiber, sondern für Leser und Zuhörer.» Darin sieht die Texterin Marguerite Meier den Sinn ihrer Arbeit. Für die Architektur bedeutet dies, dem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. «Architektur und Städtebau erhalten Relevanz, wenn wir es schaffen, mit dem Leben der Menschen etwas zu tun zu haben.» (Vittorio Lampugnani).

Eine Ästhetik des Konsums scheint ihre Entsprechung in auf einen Blick erfassbaren Räumen gefunden zu haben, weswegen Elvira Reggiani eine neue Richtung, einen Stil erahnt: «We are experiencing the emergence of a new architecture that could be called neo-romantic.» Nicht im Sinne einer Nostalgie, denn «eine Kultur, die das Immergleiche wiederholt, endet, besonders in einer sich ändernden Umwelt, in der Sackgasse.» (Philip Loskant) 

Eine junge Generation von Architektinnen und Architekten befindet sich heute nicht etwa in einer Revolution, um die vormals unantastbaren Positionen ihrer Architektenstars zu überwinden. Vielmehr bleibt relevant, wer persönliche, unscheinbare Wege einschlägt, ohne Sicherheiten oder Erfolgsgarantien. «Utopisch denkende Architekten sind aufgefordert, sich auch auf diejenigen Bauaufgaben einzulassen, bei denen von vornherein klar ist, dass sie in keiner Zeitschrift abgedruckt werden.» (BHSF)

Neue Stimmen werden laut und persönliche Positionen bezogen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Relevanz in der Architektur geht - die eine Antwort gibt es nicht. Mal provokativ: «One should leave the profession. Abstain oneself from building altogether - and possibly even turn against it.» (Florian Idenburg) Mal optimistisch nach vorne blickend: «Erneut denken zu lernen, dass eine andere Welt möglich ist.» (BHSF) Obwohl das Ziel vage bleibt, lohnt es sich, danach zu streben.

«Also gut, ich habe keine Beweise, keine Anknüpfungspunkte, alles ist reine Spekulation.» So stürzt sich Stephan Becker in seine Argumentation und befreit sich von rationalen Zwängen. Dieser Mut findet sich auch in den Manifesten, die Studierende der ETH verfasst haben: «Wir hassen die Wettbewerbsarchitektur und ihre Opportunisten. Wir wollen das Wahre, das Radikale, das Menschliche, das Kaputte, das Poetische. Experimente.»

Architekten müssen heute über den Tellerrand blicken, mit verwandten und neuen Disziplinen zusammenarbeiten, aus Stereotypen ausbrechen. Denn, wie Nina Villiger und Andrea Schregenberger in ihren erfrischenden Porträts von Persönlichkeiten mit Architekturstudium aufzeigen, müssen Gelegenheiten und Chancen wahrgenommen werden, wie sie kommen.

«Architektur, die erste der Künste, diese exemplarische Abstraktion des Werdens, dieses Schaffen des Seins, demgemäss die Sterblichen sind.» (Stephen Griek) «Das Schaffen des Seins» stellt vielleicht die ursprüngliche und damit grundsätzliche Relevanz von Architektur dar. Das Individuum und die Gesellschaft benötigen immer ihren jeweiligen Raum. Jede Zeit findet hierfür ihre Form. «Relevanz» ist sinngemäss die Eigenschaft, in einem bestimmten Zusammenhang wichtig und bedeutsam zu sein. Dieser Zusammenhang ist zeitabhängig und im steten Wandel - so auch die Relevanz der Architektur und der Architektinnen und Architekten.

Published in February 2012

Contributors

Kathrin Haitiner, Laurent Stalder, Philip Loskant, Nikolaus Hamburger, Dario Pfammatter, Marguerite Meyer, Benedikt Boucsein, Axel Humpert, Tim Seidel, Hans Danuser, Christian Kerez, Florian Idenburg, Elvira Reggiani, Antigoni Katsakou, Wiebke Rösler, Marcel Scherrer, Regula Stämpfli, Michael Meier, Christoph Franz, Roger Boltshauser, Vittorio M. Lampugnani, Christian, Markus Jung, Eli Hatleskog, Anna Hilti, Tim Rieniets, Nancy Ottaviano, Sandra Parvu, Stefan Hoenerloh, Greis, Stefan Kurath, Stephen Griek, Tobias Tommila, Sebastian Ernst, Anonym, Simon Knaus, Gerlinde Zuber, Tom Rüfli, Andrea Schregenberger, Nina Villiger, Stephan Becker

Editorial Team

Siham Balutsch, Steffen Hägele, Benedikt Hengartner, Yvonne Michel

Table of content

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Referenz-Nummer: 95849

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