Wer in den 1980er Jahren geboren wurde, der lernte in der Schule vor allem eines: Man war zwar Teil einer Generation, welche in eine prosperierende Zeit hineingeboren wurde, jedoch - so wurde uns ebenfalls suggeriert - stand ein Wendepunkt unmittelbar bevor. Uns wurde vermittelt, dass die Menschheit zu viel Energie und Ressourcen verbrauchte und mehr noch: Als Endzeitszenario stünde das Versiegen der Ressourcen kurz bevor. Diese Prognose war schon in den 1970er Jahren von Donella und Dennis Meadows im Buch “Die Grenzen des Wachstums” formuliert worden und prägte die Denkweise der folgenden Dekade. Die Angst, dass die Rohstoffe zur Neige gehen könnten, war unterschwellig gekoppelt an die unausgesprochene Furcht, wenn nicht die menschliche Kultur an sich kollabieren würde, sich zumindest unser Lebensstandard drastisch verschlechterte. Es wurde uns ein Schwarz-weiss-Bild vermittelt, so als ob es eigentlich nur zwei Alternativen geben würde: der freiwillige oder der durch Versiegen der Rohstoffe erzwungene Stillstand.
Florian lilies nannte die in den 1980er Jahren aufgewachsenen Jugendlichen “Generation Golf “ und behauptete, unsere Jahrgänge hätten sich überhaupt nicht mit den ökologischen Folgen des Wirtschaftsbooms auseinandersetzen wollen. In seinem gleichnamigen Buch suggeriert er, dass diese Generation sich lediglich für Markenkleidung und die bequeme Fortbewegung im eigenen Marken-Automobil interessierte. Seine Behauptung ist sehr verkürzt, denn das Thema war allgegenwärtig, jedoch vom erwähnten Entweder-oder-Denken geprägt. Im Alltag äusserte sich dieses Dilemma, dass scheinbar nur Alles-oder-Nichts zur Wahl stünde, zum Beispiel, als die ersten unserer Klassenkameraden volljährig wurden. Viele bekamen von ihren Eltern ein Auto geschenkt oder jobbten neben der Schule, um sich selbst eines leisten zu können. Andere, wie wir selber, bestanden jedoch darauf, dass nur das Benutzen von öffentlichem Nahverkehr und Fahrradfahren vertretbar sei. Wir diskutierten dies wie Glaubensfragen. Hineingeboren in eine Welt, die in den 1950er Jahren autogerechtumgestaltet worden war, und in den Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand aufgewachsen, hinterfragten wir hingegen die räumliche und städtebauliche Situation nicht, sondern hielten sie für unausweichlich gegeben.
Vielleicht waren wir daher auch als Architekturstudenten in den 1990er Jahren nicht überrascht, dass in Entwurf und im Städtebau von einer weiteren Steigerung der Mobilität ausgegangen wurde. Vielleicht hätte man erwarten können, dass an der Universität - im Gegensatz zur Schule - Lokalität, kurze Wege und Langsamkeit als Werte vermittelt würden. Doch im Gegenteil: In den Studios wurde versucht, auch die letzte Bastion des Unbewegten zu beseitigen, indem wir mobile Architektur entwarfen. Und wenn das nicht möglich war, versuchten wir mit den neuen digitalen Entwurfs- und Modellbautechniken alles noch Immobile zumindest formal in Bewegung zu versetzen. Das bevorstehende Versiegen der Rohstoffe akzentuierte sich lediglich in steigenden Anforderungen bezüglich der Wärmeisolation. Wieder akzeptierten wir, dass Klimaschutz und Ressourcenschonung stellvertretend in Rio diskutiert wurden.
Angesichts dieser janusgesichtigen Ausgangslage an den Architekturschulen wundert es nicht, dass die fransRedaktion zögerte, das Thema aufzugreifen. Zwar liegt es für eine architekturtheoretische Serie mit dem Titelstamm trans nahe, doch bedurfte es eines Impulses von aussen: Zehn Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von trans veranstaltete die Europäische Studentenversammlung EASA in der Schweiz einen Workshop unter dem Titel «transit» und überzeugte die Redaktion, dem Thema eine Ausgabe zu widmen. Der Workshop entwickelte erste Positionen und lotete aus, welchen Stellenwert Fragen der Bewegung in der aktuellen Architekturdebatte haben. Parallel verfolgten die transRedakteure weitere Fragestellungen und luden Autoren ein, die sich mit den Themen der Mobilität befasst haben. Wir waren beim Sichten der eingereichten Beiträge positiv überrascht: Statt lediglich Symptome eines schizophrenen Patienten präsentiert zu bekommen, waren die Beiträge differenzierter: Offensichtlich wurde Donella und Dennis Meadows' Buch noch einmal genauer gelesen. Denn sie plädierten nicht für Rückgang oder Stillstand, sondern schrieben: «In einer dauerhaft existenzfähigen Gesellschaft bestünde grosses Interesse an qualitativer Entwicklung, aber nicht an materieller Expansion. Man würde materielles Wachstum als Mittel für bestimmte
Zwecke schätzen, aber nicht als einen unerschütterlichen Auftrag.» Es scheint, wir sind noch lange nicht bei dieser qualitativen Entwicklung angekommen, aber die Betrachtungen gehen bereits viel tiefer und damit scheint ein Weg zu differenzierten Betrachtungsweisen und Handlungsstrategien geöffnet.
Die Essays waren so vielfältig und zahlreich, dass die Ausgabe transit in zwei Teile geteilt werden musste. Zwar verursachte die Fülle der Aufsätze eine längere Zeit der redaktionellen Bearbeitung als gewöhnlich, ermöglichte jedoch, dass zwei Ausgaben von trans in kurzem Abstand nacheinander erscheinen können. Der erste Band von transit liegt hiermit vor. Wir wünschen unseren Lesern viel Spass und hoffen, mit den angesprochenen Themen noch mehr Bewegung in eines der zentralen Themen der aktuellen Architekturdebatte bringen zu können.
Contributors
Jørg Himmelreich, Sasha Cisar, Marc Angélil, Peter Eisenman, Peter Baccini, Jesse LeCavalier, Laurent Stalder, Peter Wolf, Roman Seiler, Oya Atalay Franck, Sascha Roesler, Deane Simpson, Tobias Baitsch, Florian Schrott, Benedikt Boucsein, Yehuda Greenfield-Gilat, Karen Lee Bar-Sinai, Jurriën van Duijkeren, Zuzanna Ufnalska, Simon Nägeli, Michael Prytula, Bruno Keller, Michael Eidenbenz, Carl Fingerhuth, Hiromi Hosoya, Markus Schaefer, Christoph Schindler
Editorial Team
Michèle Blätz, Rebecca Bornhauser, Sascha Cisar, Andor Geller, Jørg Himmelreich, Lukas Hess, Katharina Maria Keckeis, Lukas Pauer, Tomas Polach, Jonas Ryser, Markus Weder
Table of content
08/15-Städtebau : von der Negentropie zur Entropie
The post-indexical criticality
Urbanes Leben : Erfindungen und Strategien
Wal-Martians : Wal-Mart's servo-organism
CIAM X : Mobilität und mobile Architektur in den Architekturdebatten der Nachkriegszeit
Urner Reusstal : Transit als Chance
Architekturschulen in den USA : eine "punktuelle Bestandsaufnahme"
Cultural studies in architecture : eine Einübung
RV Urbanism : nomadic network urbanism of the senior recreational vehicle community in the US
EASA 2005 : a review of the European Architecture Students Assembly in Bergün
Folly Suisse
Borders in transition : the EASA005 workshop "Between Jerusalem and Bergrün"
Industrial roughness : reporting from the EASA workshop developing strategies for Zurichs Escher-Wyss-Areal
Transubstance : between substance, surface and vacuum
Vom Wettbewerb der EASA005 zum Pavillon für Bergrün
September 28th : die Abhängigkeit urbaner Systeme von transnationalen Energienetzen
Bauen in China
Wissen, Technik, Architektur
Vom Transit oder von der Pubertät der Stadt jenseits der Moderne
Digitaler Datentransit an der CAD/CAM-Schnittstelle : Ansätze der Professur für CAAD der ETHZ für das Planen und Bauen im 21. Jahrhundert